Wie barrierefrei ist Werbung?

Header Jahresthema Kommunikation: Werbung für Blinde

Es ist kaum zu glauben, aber es gibt kaum belastbares Zahlenmaterial zu Sehbehinderung und Blindheit in Deutschland. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) fordert deshalb seit vielen Jahren empirisch erhobenes Zahlenmaterial zur Situation der blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland. Nach den gesetzlichen Bestimmungen in Deutschland, nach denen blinden und sehbehinderten Menschen Leistungen zustehen, ist ein Mensch blind, wenn er auf dem besseren Auge mit Korrektur (also mit Brille oder anderer Sehhilfe) nicht mehr als zwei Prozent sieht. Von hochgradig sehbehindert spricht man bei einem Sehvermögen von maximal fünf Prozent. Menschen, die auf dem besseren Auge maximal 30 Prozent sehen, gelten als sehbehindert. In ganz Deutschland gibt es laut Schätzungen 150.000 blinde und 500.000 sehbehinderte Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht sogar von einer deutlich höheren Zahl betroffener Personen aus.

Wie nehmen sehbehinderte und blinde Menschen Werbung wahr?

In der Werbebranche spielen bei der alltäglichen Konzeption blinde und sehbehinderte Menschen praktisch keine Rolle. Trotzdem sind die meisten von ihnen Medienkonsumenten. Auf die Frage, welche Art der Werbung sie wahrnehmen und wie sie das tun, gibt es wie so oft keine pauschale Antwort. Das liegt zum einen natürlich daran, dass jeder Mensch verschieden auf etwas reagiert. Zum anderen kann man blinde und sehbehinderte Menschen nicht über einen Kamm scheren, da es eine Vielzahl an Ausprägungen und Krankheitsbildern gibt.
Ein weiterer Aspekt ist, ob die betroffene Person früher sehen konnte und so auf visuelle Erinnerungen und Bilder zurückgreifen kann. Eine pauschale Antwort ist also kaum möglich, die individuellen Sehfähigkeiten und Sinneswahrnehmungen sind sehr unterschiedlich. Einen interessanten Einblick vermittelt die Website des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin mit einem Sehbehinderungs-Simulator. Hier kann man online erleben, wie sich die fünf häufigsten Sehbehinderungen auf die Wahrnehmung der Umwelt auswirken.
Eine große Hilfe für blinde und sehbehinderte Menschen ist die (akustische) Umsetzung von Texten und grafischen Inhalten bzw. Bildern. Für bestimmte Film- und Fernsehprogramme wird dafür die Technik der Audiodeskription verwendet. Diese Bildbeschreibungen zum Hören, speziell für blinde und sehbehinderte Menschen erschaffen Bilder mit Worten und ermöglichen Menschen mit Seheinschränkung die Wahrnehmung in Echtzeit. Im Fernsehen werden vor allem Filme und Serien mit Audiodeskription umgesetzt, aber auch Dokumentationen, Sportevents und Großereignisse werden so für blinde und sehbehinderte Zuschauer zugänglich gemacht.
Für Computer gibt es den sogenannten Screenreader. Die Screenreader-Software wandelt Inhalte des Bildschirms in gesprochene Sprache um oder gibt sie in der Blindenschrift Braille aus. Diese Software ermöglicht auch die Bedienung des Computers.

Digitale Barrierefreiheit

Wir haben uns mit Domingos de Oliveira aus Bonn über die Mediennutzung von blinden und sehbehinderten Menschen unterhalten. Er ist Dozent und Berater für digitale Barrierefreiheit und von Geburt an blind. „Die klassischen Medien benutze ich kaum noch,“ so der studierte Politikwissenschaftler und Soziologe, „ich habe keinen Fernseher und benutze kein Radio. Ich benutze meinen Computer mit einer Vorlesesoftware namens Screenreader, um mir Bildschirminhalte vorlesen zu lassen.“. Trotz all dem Fortschritt und der Möglichkeiten im Internet gibt es doch noch großen Nachholbedarf „Die meisten Probleme treten im Zusammenhang mit interaktiven Seiten oder Multimediainhalten auf. Dazu gehört etwa die Steuerung von YouTube und ähnlichen Plattformen. Die Player sind in der Bedienung recht „hakelig“. Flächendeckend würde ich mir leichter bedienbare Player, auch in den Mediatheken der großen Medien wünschen. Da ich auch schwerhörig bin, würde ich mir wünschen, dass sich die Sprache lauter und die Hintergrundgeräusche bzw. die Musik leiser stellen ließen.“
Ein Großteil der Online-Werbung ist für ihn dabei überhaupt nicht wahrnehmbar. „Die meisten Werbeclips sind rein visuell orientiert, man erfährt also als Blinder oder wenn man nicht hinguckt gar nicht, welches Produkt konkret beworben wird.“ Bannerwerbung nimmt er nur als farbige Flächen wahr, die sich gelegentlich ändern. Lediglich Anzeigen mit Text der nicht in Banner eingebundenen ist bekomme er tatsächlich mit. Er selbst vermeidet Websites, bei denen selbststartende Werbeclips eingebunden sind. Was wir einfach nur als nervig empfinden und schnell wegklicken, ist für Menschen wie ihn ein großes Problem, da neben dem Werbeinhalt auch die Sprachausgabe läuft und so zwei verschiedene Sound-Quellen einander überlagen.

Potential für die Werbebranche

Domingos de Oliveira, der zusätzlich auch schwerhörig ist und deswegen seine Lautsprecher häufig lauter aufgedreht hat, wünscht sich ganz konkret „Werbung, die weniger laut loslegt“. Seiner Meinung nach lässt sich die Medienbranche eine Chance entgehen, eine größere Zielgruppe mit ihrer Werbung zu erreichen: „Sie sollte lernen, Blinde und die zahlenmäßig noch größere Zielgruppe der Sehbehinderten ernst zu nehmen. Da viele ältere Menschen schlechter sehen, ist es auch sinnvoll, diese Zielgruppe zu bedienen, indem etwa bessere Kontraste, besser lesbare Texte und weniger bewegte Animationen angewandt werden.“

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Franziska Köppe, Inhaberin des Gemeinwohl-Unternehmens madiko in Stuttgart. Zusammen mit Freunden der beiden Netzwerke Stuttgart Connection e.V. und aus:sicht e.V. hatte sie 2010 und 2011 eine Schnitzeljagd für gemischte Teams aus Menschen mit und ohne Sehbehinderungen durch Stuttgarts Westen organisiert: „BeSINNungen“. Ihre Erkenntnis: „Blinde und sehbehinderte Menschen wollen (möglichst) selbstbestimmt und frei agieren – wie alle anderen auch. Sie wollen mitgestalten und sich aktiv einbringen,“. Sie habe die betroffenen Personen als großartige, motivierte, kommunikative und inspirierende Persönlichkeiten kennen und schätzen gelernt. Ihr Apell an die Medienbranche: „Wichtig ist der feine Grad im Ton. Verzichten Sie darauf, blinde und sehbehinderte Menschen zu bevormunden oder zu betütteln. Gehen Sie auf Augenhöhe und beziehen Sie sie als Partner ein.“
Außerdem könne man von diesen Menschen einiges lernen: „Ich bewunderte meine Kollegen bei „BeSINNungen“ für ihre Merkfähigkeit. Sie mussten die Protokolle ja im Kopf haben. Ich als Sehender kann schnell beim Zuhören nachlesen, um mir etwas ins Gedächtnis zu rufen. Ein blinder Mensch ist darauf angewiesen, dass ihm die Passage im Zweifel noch einmal vorgelesen wird. Er muss alles im Kopf behalten – inklusive seiner eigenen, neuen Gedanken.“ So mussten damals auch die Protokolle für den nichtsehenden Teil der Gruppe angepasst werden. Was als lästige Pflicht erscheinen mag, ist auch gut für sehende Menschen: „Diese Art zu protokollieren hat zumindest bei mir dazu geführt, dass ich besser gelernt habe, mich aufs Wesentliche zu fokussieren. In der Kürze liegt die Würze. Ich spare zwar dem Autor nicht die Zeit – jedoch allen anderen, die das Protokoll lesen und damit weiterarbeiten.“

Das Thema der „digitalen Inklusion“ beschäftigt Franziska Köppe auch weiterhin. So sprach sie mit Digitalberater Johannes Mairhofer, der selbst ein Auge verloren hat, über die Anforderungen an eine barrierefreie Gestaltung von Webseiten und gibt gerade für Webschaffende ganz praktische Tipps:

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Empfehlungen in der Kommunikation mit Menschen mit Behinderung:

  • Inhalte für mindestens 2 Sinne verfügbar machen.
  • Videos mit Untertiteln versehen. YouTube kann das bis zu einem gewissen Grad sogar automatisch.
  • Einfache Sprache verwenden und Texte sinnvoll gliedern.
  • Überschriften als Überschrift (h1, h2, …) definieren und nicht nur fett formatieren.
  • Überschriften hierarchisch ordnen. Wenige h1, dieser Hauptüberschrift der Seite dann Überschriften der nächsten Stufe (h2, h3 etc) unterordnen.
  • Aufzählungen wie diese hier mit Aufzählungszeichen anstatt mit – (Minus) umsetzen.
  • Inhalt und Design trennen. So kann z. B. mit einem Wechsel der CSS Daten der Kontrast erhöht, die Schriftart vergrößert oder die Seite ohne Bilder geladen werden.

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Blind Break – Deutschlands erste „blinde“ Werbepause

Bei allem was in der Medien- und Werbebranche noch besser laufen könnte, gibt es aber auch schon tolle Entwicklungen. So gab es im letzten Jahr am „Tag des weißen Stockes“, an dem die Blindenverbände weltweit auf blinde und sehbehinderte Menschen aufmerksam machten, die „Blind Break“, Deutschlands erste Werbepause ausschließlich mit Bildbeschreibungen zum Hören. So wurden die Spots von den großen Marken Carglass, Dextro Energy und Valensina mit Hilfe von Audiodeskription erzählt, was auch DBSV-Präsidentin Renate Reymann freute: „So wird dem Fernsehzuschauer mitten im Alltag gezeigt, wie Barrieren im Leben blinder und sehbehinderter Menschen kreativ angepackt werden können.”

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Wir danken den Experten die uns bei unseren Recherchen unterstützt haben:

Volker Lenk,
Pressesprecher des Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV)
www.dbsv.org

Domingos de Oliveira
Dozent, Berater und Speaker zur digitalen Barrierefreiheit
www.netz-barrierefrei.de

Franziska Köppe
Inhaberin des Gemeinwohl-Unternehmens madiko in Stuttgart
www.madiko.com

Mehr erfahren zum Thema:
Unser Gespräch mit Franziska Köppe über Barrierefreiheit im Internet und Medienwarnehmung von blinden und sehbehinderten Menschen
(folgt in den kommenden Tagen)
Sehbehinderungs-Simulator des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin
www.absv.de/sehbehinderungs-simulator
„Blindbreak“-Werbespot von Carglass zum Nachschauen auf deren Facebookseite
Blindbreak-Carglass Werbung auf Facebook

Titelbild: Brailleschrift lesen / ginasanders / Depositphotos / 10427416